Viele Büros haben einen bestimmten Stil, einen Wiedererkennungswert. Andere verurteilen dies und sagen, dass jedes Bauwerk so individuell sein sollte, wie der Ort, an dem es gebaut wird. Wie stehen Sie dazu?


Wir versuchen, jede Aufgabe neu zu sehen, die Potentiale des Ortes optimal zu ergründen und auch das Programm mit dem Wandel der Herausforderungen unserer Zeit abzustimmen. Eine Lösung muss nicht immer technisch neu sein, aber innovativ in der Art, wie unterschiedliche Anforderungen zu einer neuen Synthese gebracht wurden. So faszinieren uns kleine Wohnungsumbauten genauso wie ein Hochhaus oder eine
Schule. Als Architekten führen wir eine Art Forscherdasein, probieren immer wieder neue Kombinationen, wechseln im Entwurfsprozess die Perspektive. Am Anfang gibt es nie nur eine Lösung, sondern man muss immer alternierend an unterschiedlichen Wegen arbeiten. Durch die Lehre, aber auch als Kuratoren und bei der Arbeit an Publikationen, reflektieren wir die eigene Haltung immer wieder neu.

 

Sie haben erst kürzlich den World Architecture Festival Preis 2016 für die Deutsche Schule Madrid gewonnen. Was macht das Gebäude so besonders?

 

Die Schule liegt im Norden der Stadt an der Peripherie mit einem faszinierenden Blick in die Weite der Landschaft bis zu den schneebedeckten Bergen. Das ist ein enormes Potenzial. Der Übergang von Stadt und Landschaft ist ein zentrales Thema.


Wir wollten einen identitätsstiftenden Ort schaffen, der Offenheit und Introvertiertheit miteinander verbindet. Die vielschichtigen Nutzungsbereiche der mit fast 2000 Schülern sehr großen Schule sind in diesem Ensemble als klare Einheiten ablesbar. So können sich die Kinder noch gut zurechtfinden und sich als Gruppe erleben. Die einzelnen Häuser der drei Schulbereiche – Kindergarten, Grundschule und Gymnasium – umschließen jeweils einen Innenhof, einen Patio, der die konzentrierte Atmosphäre eines Kreuzganges zeitgenössisch neu interpretiert und zugleich mit seiner Öffnung zur Landschaft im Erdgeschoss die Weite der Sierra erlebbar macht. Die Rückbesinnung auf traditionelle Einfachheit bei gleichzeitiger technisch-innovativer Raffinesse prägt die ganze Entwurfshaltung und Ausführung der Deutschen Schule Madrid auch in Konstruktion und Haustechnik.


Schulgebäude sind zukunftsweisend und haben eine Schlüsselrolle in der Vermittlung von Baukultur und Nachhaltigkeit. Sie sind ein wichtiger Teil des Lebensumfeldes der Schüler und prägen ihr Verständnis der gebauten und natürlichen Umwelt wie auch des soziokulturellen Umfelds. In der Deutschen Schule bildet der Foyerhof eine Sonderzone zwischen innen und außen und gilt als Empfangsort, wo die Schulkinder ankommen. Solche visuellen und räumlichen Bezüge und Begegnungsangebote im Gebäude stärken die Gruppenidentifikation und das interkulturelle Zusammenleben.

 

Sie setzen sich auch mit Kulturbauten und kulturellen Themen innerhalb der Architektur auseinander. Welchen Einfluss nimmt Ihrer Meinung nach die Architektur auf unsere Kultur? Ist Architektur beispielsweise Teil unserer Identität?


Architektur ist untrennbar mit Emotionen verbunden. Architektur und ihre Erlebniskraft müssen wieder hervorgehoben werden, in der Welt der schnellen Bilder und Medien zum Alltag der Menschen zurückkehren. Plastische und haptische Erfahrungen werden immer wertvoller.
Architektur kann Menschen ein Stück ihres Lebens neu entdecken lassen, ihnen ein verändertes Bewusstsein über die Dinge und Prozesse eröffnen. Sie ist Inszenierung, eine dreidimensionale Bühne, durch die Körper und Geist sich bewegen können.

Die Frage nach der Identität des Individuums oder eines Ortes gewinnt immer mehr an Bedeutung. Identität ist eine Frage von Codierung, eine Übersetzung bekannter Seh- und Erfahrungsmuster in unverwechselbare Raum- und Wertbilder, die dem Architekten Moderation und Transformation abverlangen.

Wie fördert Architektur kulturelle Einzigartigkeit? Gibt es einen Unterschied zwischen internationaler und regionaler Architektur?

 

Zum einen gibt es regionale Besonderheiten, eine Spannung und Lebendigkeit unserer gebauten Umwelt, und die Baugeschichte ist geprägt durch die wunderbare Kraft des Authentischen, welche verloren ginge, wenn sich Architektur nur auf die Wiederholung von Allgemeingültigem, Bewährtem oder Grundsätzlichem fixieren würde. Dabei ist Entwerfen immer ganzheitlich und in globaler Verantwortung.

Die europäische Stadt ist noch immer wesentlich durch Tradition und Historie bestimmt und somit anders als die rasant wachsenden neuen Metropolen im asiatischen oder lateinamerikanischen Raum. Das ist eine wunderbare Qualität, aber es geht nicht um die Musealisierung, sondern um ihre Weiterentwicklung, um Kontinuität und den Eigensinn einer jeden Epoche sowie darum, dass Stadt lebendig und authentisch bleibt. Daher ist es wichtig, das bauliche Erbe einer Stadt, aber auch ländlicher Regionen, als Kulturträger seiner Zeit anzusehen und es zu schützen – es zu schützen vor Abriss und vor kulissenhaften Nachempfindungen einer erstarrten Tourismusstaffage. Stadt muss lebendig bleiben durch Nutzungsmischung und Vielfalt, Stadt als Ort der kulturellen Verdichtung und Begegnung, als Ort der Tradition und Kontinuität für gelebten Alltag, aber auch als Impulsgeber für stimulierende Transformationen.

 

Worin liegt die Zukunft der Architektur? Welche Rolle spielen darin Bestandsgebäude?

 

Architekten müssen Zukunft gestalten wollen, was die Entwicklung neuer konzeptioneller wie physischer Modelle erfordert. Wir glauben nicht, dass man einen Idealzustand in der Architektur erreichen kann. Architekten müssen ihre Beweglichkeit erhalten, die Dinge immer in Frage stellen, um sie jenseits der starren Systeme neu entdecken und definieren zu können. Die traditionelle Stadt und die historischen Bauten sind als Bausteine der Kontinuität für städtebauliche Modelle mit Zukunft unverzichtbar. Bestandsgebäude sollten als Ressourcen gesehen werden. Aber es gibt keine verlässlichen Zukunftsprognosen, keine Langezeitpläne mehr. Wir entwerfen für Orte und Funktionen in Veränderung. Nur wenn sich das Neue immer wieder in eine Relation zum Vorhandenen stellt, es quasi neu interpretiert, kann sich die Architektur lebendig weiterentwickeln.

 

Wie nehmen die Globalisierung und ein demographischer wie gesellschaftlicher Wandel Einfluss auf die Architektur und Kultur?

 

Die Architektur als Spiegel einer Gesellschaft lebendiger Vielschichtigkeit muss neu stabilisiert und generiert werden. Die demographische Entwicklung und moderne Trends und Lifestyles bringen neue Lebensentwürfe hervor. Vergreisung, Vereinzelung oder Verstädterung sind beispielsweise bedeutende Themen. Ältere Menschen ziehen zurück in die Stadt, die Dreißig- und Vierzigjährigen wandern nicht mehr automatisch an den Stadtrand. An die Stelle der klassischen Kleinfamilie treten Single-, Alleinerziehende-, Wohngemeinschafts- oder Mehrgenerationen-Lebensentwürfe. Es stellt sich die Aufgabe der Integration von Zuwanderern in unsere Gesellschaft, die auch eine kulturelle Bereicherung anbieten. Uns als Architekten werden höchst individuelle Lösungsansätze für verschiedene Orte und Funktionen im Umbruch abverlangt.

 

Wie verhält sich die Architektur in Bezug auf die Natur?

 

Landschaft ist eine wichtige Ressource. Die Grenzen zwischen Natur und Siedlung sind fast völlig aufgehoben worden. Wir erleben nur Überlagerungen und kennen Landschaften ohne menschlichen Eingriff kaum noch – weshalb Architektur die Natur durch Verdichtung schonen und sich immer mehr auch als Transformation von Landschaft begreifen muss.

 

Die meisten Menschen verbringen den Großteil ihres Lebens in Gebäuden. Gegen die Tendenz zu weiterer Introversion versuchen wir Räume zu schaffen, die selbst an Orten hoher städtischer Verdichtung den Außenraum und die Natur erfahren lassen. Gegen die Eingrenzung verfolgen wir Entgrenzung, versuchen wir, Naturräume zu sichern und den Menschen wieder mit dem Natürlichen und dessen Veränderungen in Kontakt zu setzen. Die Natur ist für uns eine große Inspiration.

In der Lehre an der  Universität  baue ich das Forschungsfeld „hortitecture“ auf – es zielt auf die Synergien in der Kombination von Architektur und lebenden Pflanzen. Es bringt Architekten Umweltwissenschaftler und Politiker zusammen. Naturflächen werden nicht mehr einfach nur von anthropozänen Strukturen überlagert – wir suchen nach neuen Formen der konzeptuellen und räumlichen Verbindung, damit insbesondere in der Nachverdichtung unserer Städte eine ökologische Balance wiedergefunden werden kann.

 

Mit Armand Grüntuch und Almut Grüntuch-Ernst sprach Julian Franke, Student der Architektur und Philosophie sowie Praktikant im Büro Grüntuch Ernst Architekten.

 

Armand Grüntuch und Almut Grüntuch-Ernst haben 1991 ihr Büro in Berlin gegründet. Er hat an der RWTH Aachen und der IUAV Venedig studiert, sie an der Universität Stuttgart und der AA in London. Beide haben an der HdK Berlin gelehrt, seit 2011 ist sie Professorin an der TU Braunschweig. Armand Grüntuch ist Teil des Beirats der Bundesstiftung Baukultur. Das Werk umfasst Wohn- und Bürogebäude, Verkehrsbauten, Hotels und Bildungseinrichtungen, aber auch Sonderaufgaben wie die Konzeption und Gestaltung des deutschen Beitrags auf der Architekturbiennale 2006 in Venedig. Ihre Bauten tragen zur Transformation und Funktionsmischung, Vielfalt und Verdichtung des urbanen Raums bei. Die hohe Qualität ihrer realisierten Projekte, u.a. in Berlin, Hamburg, Leipzig und zuletzt Chemnitz und Madrid, führt zu zahlreichen nationalen und internationalen Auszeichnungen.