Herr Herkner, woran arbeiten Sie gerade?
Zur Zeit arbeite ich an verschiedenen Projekten: Dabei sind Partner, mit denen mein Team und ich schon seit vielen Jahren zusammenarbeiten, aber auch ganz neue Kunden. So entwerfen wir beispielsweise im Moment eine Inneneinrichtung für eine temporäre Dependance einer Kunstgalerie aus Berlin, die bald in Hamburg eröffnet.
Ihr „Bell Table“ von ClassiCon aus dem Jahr 2012 gilt als Ihr internationaler Durchbruch. Heute sind Sie einer der gefragtesten Produktdesigner aus Deutschland. Als trendsetzender Kreativer der Mann der Stunde. ClassiCon, Fritz Hansen, Thonet, Dedon, Schramm, Freifrau, Moroso, Cappellini, Emu, Fürstenberg sind nur einige wenige der klangvollen Marken aus Ihrem Portfolio. Wo soll die Reise noch hingehen? Und für welches Unternehmen, für welche Marke möchten Sie unbedingt mal etwas entwerfen?
Ich freue mich riesig über die wunderbaren Firmen, für die wir alle schon arbeiten durften. Doch geht es mir nicht um große Namen. Mich reizt besonders, Neues auszuprobieren, in einen anderen Bereich einzutauchen, hinter die Kulissen von Unternehmen zu schauen, mich mit den Handwerkern der Manufakturen auszutauschen, an Ideen zu feilen sowie interdisziplinär und interkulturell zu denken. Eine Liste mit Wunschmarken habe ich nicht im Kopf. Das würde mich unter Druck setzen. Hinzu kommt, dass es auch noch zahlreiche kleine und unbekannte Marken zu entdecken gibt, die spannend sind.
Und wie entscheiden Sie, für welche Marke Sie arbeiten, welches Projekt, welchen Auftrag Sie annehmen? Haben Sie in Ihrem Team Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die eine Art Vorauswahl treffen, um die Vielzahl von Anfragen bewältigen zu können?
Nein, das will und muss ich alleine entscheiden, ansonsten wäre das nicht authentisch. Ich muss ein gutes Gefühl haben, denn jedes Design ist eine Art und Weise, mich auszudrücken. Eine Produktentwicklung ist mit vielen persönlichen Erfahrungen und Emotionen verbunden, sie dauert mit unter Jahre. Daher ist neben der Kreativität die zwischenmenschliche Ebene weitaus wichtiger als jede wirtschaftliche Komponente.
Auch Ihre Liste der Auszeichnungen und Preise ist bereits jetzt seitenfüllend. So wurden Sie u.a. im Jahr 2011 mit dem „Designpreis der Bundesrepublik Deutschland“ ausgezeichnet, 2019 vom renommierten Maison & Objet zum Designer des Jahres gewählt und 2020 mit dem „German Design Award Gold“ geehrt. Haben diese hochkarätigen Auszeichnungen neben beruflicher Anerkennung etwas in ihrem persönlichen Leben verändert?
Ganz und gar nicht. Die Auszeichnungen sind eine sehr schöne Anerkennung für die geleistete Arbeit meines Team und mir sowie für die jeweilige Firma. Doch weitaus wichtiger ist für mich zu sehen, wo die Produkte landen, wie sie sich im alltäglichen Gebrauch bewähren. Jedes Produkt, das Menschen umgibt, erzählt eine persönliche Geschichte. Denn normalerweise bleibt diese für uns Designer, die manchmal zwei, drei Jahre bis zur Vorstellung auf der Messe daran gearbeitet haben, ja verborgen. Hat jemand vielleicht auf dem Sofa den ersten Kuss bekommen? Welche Erinnerungen verbindet eine Person mit einer ganz bestimmten Leuchte, einem Tisch etc.? Design ist ein Dialog zwischen Idee, Zeichenstift und Kunde. Design soll Menschen glücklich machen, jeden Tag aufs Neue erfreuen.
Die größte Wertschätzung für mich ist es, wenn mir eine unbekannte Person von irgendwo auf der Welt z.B. über Instagram eine Nachricht oder ein Bild schickt und begeistert über ein Produkt, das ich entworfen habe, erzählt. Kreative liefern das Futter für die Sinne!
KULTUR ROCKT lässt als interdisziplinäres Festival Musik (von Rock/Pop bis Klassik), Literatur, Schauspiel und bildende Kunst erlebbar werden. In welchen Kunstgenres finden Sie Inspirationsquellen?
Ich lasse mich gern von den verschiedensten Künsten inspirieren. Sei es die bildende Kunst, Architektur, Musik, Literatur, aber auch von der Kulinarik. Spannend finde ich etwa, sich zu überlegen: „Welches Gericht würde ich mit dem „Bell Table“ verbinden?“ „Wie schmeckt ein Sofa?“ Trotz der Unterschiede haben ja alle Sparten eines gemeinsam: die Kreativität!
Nachhaltigkeit spielt in Ihrem Schaffensprozess eine elementare Rolle. Können Sie uns das näher erläutern?
Gutes Design, das in einer guten Qualität umgesetzt wurde, ist ein erster Schritt zur Nachhaltigkeit. Im Gegensatz zur sogenannten „fast-furniture-Bewegung“ möchte ich langlebige Qualitätsprodukte entwerfen, die aus nachhaltigen Materialien produziert werden.
In einer Zeit, wo Müllberge stetig wachsen, Überproduktion zunimmt und Raubbau an unserer Umwelt betrieben wird, muss die Zukunft eine nachhaltige sein. Der Mensch ist nun mal von Natur aus etwas bequem, deshalb braucht es meines Erachtens neben der Aufklärung und des Sichbewußtmachens politische Beschränkungen und Anreize wie steuerliche Vergünstigungen für Unternehmen mit einem ausgeglichenen CO2-Fußabdruck.
Deutschland gilt international nicht gerade als Vorreiter in den Bereichen Stil, Ästhetik und l´art de vivre. Wir sind eher für Technik (Autos, Ingenieurskunst) und Bürokratie bekannt. Mythos oder Realität?
Gestaltung und Design im Interieur genießen bei uns in Deutschland leider (noch) nicht den Stellenwert wie beispielsweise in Italien, Frankreich oder Dänemark. Zum Glück wandelt sich da jedoch gerade sehr viel. Ähnlich wie bereits im Zuge der Banken- und Weltwirtschaftskrise 2008 finden in der Corona-Pandemie viele in Deutschland wieder zu Qualität in Produktdesign und Verarbeitung. Es zeigt sich einmal mehr: In der Krise wird in Qualität investiert. Ich möchte dazu beitragen, das Bewusstsein zu wecken, dass es sich lohnt, sich für Produkte von guter Qualität zu entscheiden. Als treue Begleiter kann man an ihnen nicht nur ein Leben lang Freude haben, sondern sie an andere weitergeben, wenn es sich etwa um ein Möbelstück, einen Teppich oder eine Leuchte handelt. Häufig wird allerdings vergessen, dass Deutschland einst die führende wegbereitende Designnation war. Denken wir nur an das weltberühmte Bauhaus. Der zweite Weltkrieg hat sehr viel zerstört, nicht zuletzt unzählige Manufakturen, Handwerksbetriebe.
Wieviel Handwerker steckt in Ihnen?
(Lacht.) Traditionell recht viel. Als waschechter Baden-Württemberger und aufgewachsen im kleinen Bad Mergentheim habe ich schon als Kind in der Garage gebastelt, geschraubt und gewerkelt. Das kommt mir jetzt beim Austausch mit den Handwerkern im Prozess der Produktentwicklung bis hin zur Serienreife natürlich sehr zugute.
Häufig werden Sie zu Gastvorträgen an Hochschulen für Gestaltung und Design eingeladen. Was ist das Wichtigste, was Sie Ihren Studentinnen und Studenten mit auf den Weg geben?
Seine eigene Handschrift zu entwickeln, ist elementar. Absolut unwichtig ist dagegen der Ort. Es muss nicht New York, Paris, Mailand, München oder Berlin sein. Was nützt es, wenn ich mir so gerade eine Minidachgeschosswohnung in Paris leisten kann, ich aber ständig gestresst bin, da der Platz zum Arbeiten nicht ausreicht und ich nicht weiß, wie ich den teuren Lebensunterhalt aufbringen kann. Mit den digitalen Möglichkeiten von heute sind wir sowieso weltweit verbunden. Jeder sollte sich an dem Ort, an dem er sich befindet, wohlfühlen, um gut arbeiten zu können. Ich muss frei und gelöst sein, um kreativ sein zu können. Für mich war es deshalb nie eine Option, in Metropolen wie Berlin, München oder Frankfurt zu ziehen, auch wenn ich anfangs dafür von einigen belächelt wurde. In Offenbach habe ich optimale Bedingungen: viel Raum für mein Studio, viele Freiheiten. Außerdem leben viele meiner Freunde in Offenbach. Dort fühle ich mich zu Hause.
Sie sagen: „Ich brauche Farbe um mich herum.“
Absolut. Im Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern wie Kolumbien oder den skandinavischen Staaten ist Deutschland eher ein graues, farbloses Land. Die bunten Häuserfassaden dort unterstreichen die Lebensfreude, die auf der Straße zu sehen und zu spüren ist. Deswegen setze ich Farbe in meinen Entwürfen sehr gern ein. Oft sind sie zudem ein Hilfsmittel, um unterschiedliche Materialitäten in einer Zeichnung zu visualisieren.
Stichwort „Made in China“ versus Nachhaltigkeit: Unternehmen wir in Europa genug, um unsere unbezahlbaren Schätze der Handwerkskunst und der traditionellen Fertigungstechniken in Manufakturen, die nur noch wenige Personen beherrschen, zu erhalten? Wir denken da beispielsweise an das Lederhandwerk und Webereien in italienischen Gegenden um Florenz, Porzellanherstellung in der Weserregion und dem Triebischtal in Deutschland, Glasbläsereien in Polen etc.
(Nachdenklich.) Meiner Meinung nach tun wir politisch nicht genug und daher gesellschaftlich auch nicht. Offenbach steht exemplarisch für den Niedergang von traditionsreichen Unternehmen, die seit mehreren Generationen ihr Wissen weitergegeben haben. Früher war Offenbach die Lederverarbeitungs- und Schuhhandwerksstadt schlechthin in Deutschland. Geblieben ist heute nur noch das Deutsche Ledermuseum. Ich setze mich dafür ein, dass Handwerkskunst erhalten und weitergegeben wird. So bin ich ständig auf der Suche nach Handwerksbetrieben, mit denen ich zusammenarbeiten kann. Mit der Glasmanufaktur Freiherr von Poschinger, die es seit 1568 in Süddeutschland gibt, habe ich zum Beispiel eine Serie von Trinkgläsern entworfen. Es ist unglaublich faszinierend zu sehen, mit welcher Expertise solche Manufakturen mit bestimmten Materialien arbeiten. Dieses kostbare Wissen darf nicht verlorengehen! Bedauerlicherweise hat insbesondere Deutschland in den letzten Jahren Sachen vernachlässigt und seine Visionen vergessen. Auf diese Weise haben uns andere auf vielen Gebieten mittlerweile den Rang abgelaufen. Selbst unsere Vorzeigeindustrie der Automobilherstellung ist doch erschreckend in stürmische Fahrwasser geraten. Es fehlt hier bei uns vielfach der Ehrgeiz und die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Beides ist vor allem bei der jungen Generation in China gegeben, wodurch sich ein beachtlicher Wettbewerbsvorteil entwickelt hat.
Was verbinden Sie mit dem Sauerland?
Die Leuchtenfirma Erco in Lüdenscheid kommt mir direkt in den Sinn. Aber auch starke Marken aus dem Armaturbereich wie Dornbracht oder Keuco sind in dieser schönen grünen Region zu Hause.
Vielen Dank für das Gespräch, Sebastian Herkner.
Das Interview führte Matthias Berghoff.